Stinktierwerfen oder der Versuch, Grenzen zu setzen
(8 min Lesezeit)
„Wenn Menschen dir Grenzen setzen, ist es ihr Versuch, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Es ist nicht der Versuch, dich zu verletzen."
Elizabeth Earnshaw
Dies ist eine sehr persönliche Geschichte. Es geht um ein Muster, das in meinem Leben schon sehr oft aufgetaucht ist. So oft, dass ich das Gefühl habe, es mit dir teilen zu müssen. Vielleicht kennst du es ja auch! Es geht darum, wie schwierig es manchmal ist, erfolgreich Grenzen zu setzen.
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Willkommen beim Stinktierwerfen:
Wer kann spielen:
Für dieses Spiel benötigen wir mindestens zwei Spieler. Einer, der nicht gelernt hat, Grenzen zu setzen oder Nein zu sagen, und einer, der eher widerspenstig ist, nicht gut auf Feinheiten hört, einen starken Charakter hat, mit anderen Worten jemand, der die Grenzen anderer Menschen nicht leicht erkennt und respektiert.
Die Spieler heißen Stinktierzüchter und Rüpel.
Schauen wir uns die Regeln an und spielen dann eine hypothetische Runde Stinktierwerfen, in der ich definitiv der Stinktierzüchter bin...
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Regeln:
Das Spiel besteht aus mehreren Runden und je nachdem, wie sich beide Spieler während dieser Runden verhalten, kann es auf die eine oder andere Weise enden und mehr oder weniger Runden dauern. Es ist wichtig, dass beide Spieler ihren Charakteren mit all den Fehlern und Talenten, die dazu gehören, treu bleiben.
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Runde 1:
Der Rüpel beginnt das Spiel, indem er die Stinktierfarm so betritt, wie er (oder sie, aber ich bleibe bei einer Form) normalerweise durchs Leben geht: Laut und die Grenzen des Stinktierzüchters missachtend, sobald sich dazu eine Gelegenheit bietet. Allerdings tut er das nicht mit der Absicht, den Stinktierzüchter zu ärgern oder zu verletzen. Er ist ein liebenswerter Mensch, dem aber leider nie beigebracht wurde, dass Stinktierzüchter sehr sensibel und dass Stinktierfarmen Orte sind, an denen andere Regeln gelten.
In dieser Runde wird der Stinktierzüchter den Rüpel beobachten, der auf seiner Farm herumstapft, die Stinktiere in Aufruhr versetzt und insgesamt viel Lärm macht. Es kann fröhlicher oder freudiger Lärm sein, aufmüpfiger oder tatsächlich aggressiver Lärm; es ist nicht wirklich wichtig. Alle zu intensiven Geräusche, stören die Stinktiere. Die Stinktiere repräsentieren das Nervensystem des Stinktierzüchters. Für einen aufmerksamen Beobachter ist es daher ziemlich leicht zu erkennen, wie sich der Stinktierzüchter fühlt. Aber nicht jeder wurde in die Geheimnisse des Verhaltens und der Bedürfnisse von Stinktierzüchtern eingeweiht.
Der Stinktierzüchter kann nun seinen nächsten Zug wählen. Wenn er versucht, das Verhalten des Rüpels zu ignorieren und zu akzeptieren, verliert er die Runde (und möglicherweise das Spiel, wenn er zu lange auszuhalten versucht). Wenn er sich entscheidet, sich zu äußern oder Grenzen zu setzen, wird er gewinnen. Höchstwahrscheinlich wird es ein Mittelweg sein. Der Stinktierzüchter ist es nicht gewohnt, klare Grenzen zu setzen. Es fühlt sich dann selbst aggressiv und laut und er mag dieses Gefühl nicht. Daher beschließt er z.B. vielleicht, außerhalb der Farm Schilder anzubringen, die jeder sehen kann, bevor er eintritt. Schilder mit Erklärungen, wie man sich auf dem Gelände zu verhalten hat. Da steht dann z.B.: „Bitte bleib auf den Wegen, wenn du kannst. Wenn du den Weg verlassen musst, achte bitte darauf, nach seltenen und wertvollen Pflanzen Ausschau zu halten und sie nicht zu zertreten.“, „Bitte achte auf Lautstärke und Tonfall beim Sprechen. Lärm oder Aggressivität verärgern die Stinktiere.“ oder „Bitte verlass das Gelände, wenn ich dich darum bitte. Es gibt Aufgaben, die ich nur ohne Besucher erledigen kann.“ Und Vieles mehr.
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Es ist möglich, dass der Rüpel die Schilder bemerkt, aber höchstwahrscheinlich wird er sie nicht verstehen. Sie sind in der Sprache der Stinktierzüchter geschrieben und diese Sprache spricht er nicht.
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Sollte er aber überraschenderweise die Schilder doch verstehen können, sie lesen und sich dementsprechend verhalten, gewinnt der Stinktierzüchter das Spiel. Wenn nicht, geht es weiter mit ...
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Runde 2:
In dieser Runde ist die Situation dieselbe wie zuvor, aber die Stinktiere sind bereits ziemlich auf Habacht und jedes Mal, wenn sich der Rüpel der Farm nähert, werden sie angespannt und versuchen sich zu verstecken, aber eine Stinktierfarm bietet nicht viel Versteckmöglichkeiten. Also tun sie ihr Bestes, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, und der Stinktierzüchter stellt sich schützend vor seine Tiere (oder er versucht es zumindest). Jetzt kommt der Rüpel und ist weiterhin sein lautes und aufdringliches Selbst. Aber diesmal ist der Stinktierzüchter vorbereitet. Er hatte die Idee, überall auf seinem Körper Hinweise anzubringen: Tätowierungen, Aufkleber auf der Kleidung, ein kleines Fähnchen auf dem Hut usw. Unmöglich zu übersehen, denkt er. Nun, wenn er Recht hat, gewinnt er das Spiel nach Runde 2 und hat Glück gehabt. Wenn er sich aber irrt, geht das Spiel weiter mit ...
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Runde 3:
Der Stinktierzüchter hat ein Ass im Ärmel und kann es in dieser Runde ausspielen. Stinktierzüchter sind in der Regel Menschen, die ein wenig Einsamkeit genießen und nichts dagegen haben, die Tore zu ihren Farmen zu schließen und einige Zeit allein in ihrem kleinen Paradies zu verbringen. Und das wird er jetzt tun. Der Rüpel muss draußen bleiben und warten, bis er die Farm wieder betreten darf. Besondere Freunde können die Farm immer durch ein kleines Tor hinter der Scheune betreten, aber nur wenige Menschen kennen dieses Geheimnis.
Während dieser Zeit in Abgeschiedenheit kann der Stinktierzüchter neue Pläne machen. Er möchte so gerne eine Strategie entwickeln, die vom Rüpel besser verstanden wird. Er versucht, die Sprache des Rüpels zu lernen und sehr klar zu sein. Er bereitet sich auch darauf vor, sich zu behaupten. Es ist etwas, mit dem er schon sein ganzes Leben lang zu kämpfen hatte, aber er ist bereit, es noch einmal zu versuchen. Er möchte die Stinktierfarm nicht allzu lange geschlossen halten. Es gibt Leute, die mit dem Rüpel von der Farm ausgeschlossen wurden und die er so gerne wiedersehen würde. Und um ehrlich zu sein, mag er den Rüpel auch ein bisschen oder sehr sogar. Er sieht die guten Eigenschaften an ihm und würde so gerne mehr davon sehen. Er glaubt, dass er sich auf seinen Besuch freuen wird, wenn er den Rüpel dazu bringen kann, sein verletzendes und ermüdendes Verhalten anzuerkennen und zu ändern. Jetzt gerade hat er aber einfach nicht die Geduld und Energie dafür, ihn hereinzulassen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen kann. Schafft der Rüpel es, sich zurückzuhalten und abzuwarten, besteht die Möglichkeit, dass beide dieses Spiel gemeinsam gewinnen. Es hängt ein wenig davon ab, ob der Rüpel diese Zeit nutzt, um zu lernen und zu verstehen. Vielleicht bemerkt er, dass der Stinktierzüchter tatsächlich Schilder in seiner Rüpelsprache angebracht hatte, an denen er immer eilig vorbeigelaufen war, ohne sie auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
Wenn der Stinktierzüchter Glück hat, wird der Rüpel ihn bitten, sich mit ihm zu einem Gespräch zu treffen, bereit zu sprechen und neue Regeln für ein Spiel mit dem Titel „Hören Sie gut zu und respektieren Sie die Grenzen“ festzulegen, und das Spiel würde hier mit zwei Gewinnern enden ...
Tut er es nicht, kehren wir möglicherweise zu Runde 2 zurück und wiederholen diesen Zyklus, bis entweder der Rüpel lernt, die Regeln einer Stinktierfarm zu verstehen und zu respektieren, oder eines Tages mit Runde 4 fortzufahren.
Ein anderes mögliches Szenario ist, dass der Rüpel vor dem Tor wütet und weint und verlangt, dass man ihn sofort reinlasse, denn er sei doch so gerne auf der Stinktierfarm und er wolle jetzt sofort hinein. Alles sei so unfair. Ein wunderbarer kleiner Wutanfall. Aus sicherer Entfernung und versteckt hinter einem Baum beobachtet der Stinktierzüchter dieses Verhalten mit Interesse. Hier kann man so viel lernen.
Dieses Szenario führt uns definitiv zu ...
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Runde 4:
Runde 4 ist eine unschöne Runde. Der Stinktierzüchter ist jedes mal aufs Neue frustriert, wenn er an diesen Punkt gelangt. Er hat alles in seiner Macht stehende versucht und es tut ihm leid, dass er unter seine Beziehung zum Rüpel, so wie sie jetzt ist, einen Schlussstrich ziehen muss.
Er weiß, dass die Stinktiere bereits völlig überfordert und gestresst sind. Sie haben genug von all dem Lärm, der ihre gemütliche Ruhe stört. Sie wollen gerne ihr Gras essen und die schönen Blumen auf der Wiese betrachten, aber ständig müssen sie auf der Hut sein und zum Schuppen zurücklaufen, wenn der Rüpel mit oder ohne Einladung auf die Farm kommt... Auch der Stinktierzüchter sehnt sich nach etwas Ruhe und Frieden. Er hat Ideen und Projekte, an denen er arbeiten möchte, aber die Abwehr des Rüpels und die Beruhigung seiner Tiere erfordern einfach zu viel Kraft und Energie. Er hasst Konflikte und hat sich so sehr bemüht, dieses Spiel für beide Seiten zu gewinnen. Eine kleine Stimme in seinem Kopf sagt ihm, dass nur wenn ER das Spiel gewinnt, beide gewinnen werden. Wenn er verliert, müssen sich beide im Loslassen üben und mit den damit verbundenen Emotionen auseinandersetzen. Aber tief im Inneren hat er schon losgelassen und zwar seitdem er sich eingeschlossen hatte und danach immer noch alles beim Alten war. Diesmal hält er sich also nicht zurück.
Er schnappt sich ein Stinktier, sagt ihm es solle sich bereit halten und wirft es dem Rüpel über den Zaun hinweg zu. Der, überrascht von diesem plötzlichen Angriff, fängt das Stinktier auf und hält es fest. Dies ist das Signal für das Stinktier, den größten und lautesten und stinkendsten Furz loszulassen, den die Menschheit jemals zuvor gehört und gerochen hat. Es ist ein besonderer Furz. Es spricht des Rüpels Sprache und so erzählt das Stinktier dem Rüpel all die Dinge, die der Stinktierzüchter in seiner ruhigen und liebevollen Art nicht übermitteln konnte. Stellen dir nur die Überraschung vor. Und je größer das Tier, das der Stinktierzüchter gewählt hat, desto übler der Furz.
Nachdem er sich von all dem Wind in seinem Darm befreit hat, eilt das Stinktier zurück auf die Farm, wo der Bauer aus sicherer Entfernung die Reaktion des Rüpels beobachtet. Der Stinktierzüchter wagt es nicht, näher heranzugehen, da er möglicherweise in Versuchung geraten würde, noch weitere Stinktiere zu werfen, die dann möglicherweise nicht so freundlich und klein wären wie das erste. Stinktier-Fürze sind unglaublich direkt und zielgenau. Sie erzählen immer Wahrheiten, von denen möglicherweise nicht einmal der Stinktierzüchter wusste, dass er sie in sich trägt. Er hasst es, Stinktiere werfen zu müssen, weil er sich für jeden schlecht fühlt, der dabei zu Schaden kommt. Ich meine, er weiß wie es ist. Sie sind seine Stinktiere und er hat die Fürze selbst erlebt. Stinktier-Fürze übertragen selten gute und positive Nachrichten. Es würde durchaus ein bisschen helfen, die Heftigkeit der Explosion abzuschwächen. Aber ich bezweifle, dass es helfen würde, die Stinktiere z.B. in Blumen zu wickeln. Der Rüpel würde wahrscheinlich eh die Augen schließen und sich auf den Gestank konzentrieren. Das ist sehr schade, weil es den Eindruck hinterlässt, dass plötzlich alles schlecht ist und alle guten Zeiten vergessen wurden.
Gleichzeitig fühlt es sich unglaublich gut an, Stinktiere zu werfen, und das kann durchaus zu inneren Konflikten für den Stinktierzüchtern führen. Er ist so erleichtert zu wissen, dass er sich zumindest für eine Weile vom Spiel befreit hat. Nie wieder wird der Rüpel auf seinen Gefühlen und Blumen rumtrampel oder seine Stinktiere herumschubsen und ärgern, nie wieder... Bis er bereit ist, sich einem neuen Spiel zu stellen. Wenn er das irgendwann kann und möchte. Das hängt sehr davon ab, wie viel ihm der Rüpel bedeutet und wie schwer der Schaden ist, der seiner Farm während des Spiels zugefügt wurde.
Das Ende des Spiels:
Der Stinktierzüchter hat viel gelernt und wird von nun an versuchen, Baby-Stinktiere zu werfen, wenn jemand beschließt, sich nicht an seine Regeln zu halten. Die stinken nur ein ganz kleines bisschen und dienen als Warnung. Er druckt auch kleine Infoblätter für Besucher und wer ein Risiko für die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Tiere darstellt, dem wird direkt gezeigt, wo der Ausgang ist.
Ich spiele dieses Spiel immer noch mit Menschen aus meiner Vergangenheit. Es ist wirklich eine Herausforderung und ich habe beschlossen, dass es von nun an keine neuen Spiele mehr geben wird, wenn ich es vermeiden kann. Menschen, die Babystinktiernachrichten nicht verstehen, dürfen meine Stinktierfarm erst gar nicht mehr betreten.
Hast du so etwas auch schon erlebt?
Wie gehst du damit um, selbst Grenzen zu setzen oder die von anderen zu respektieren?
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Ich wünsche dir, dass du es schaffst, immer standhaft zu bleiben und dass du selbst und dein Wohlbefinden immer Priorität in deinem Leben sein darf.
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Hier noch ein paar weitere Zitate, die ich alle sehr treffend finde:
„Eine Grenze ist ein bestimmter Punkt, an dem deine Verantwortung endet und die einer anderen Person beginnt. Es hindert dich daran, Dinge für andere zu tun, die sie für sich selbst tun sollten.“
Unbekannt
„Nein ist ein vollständiger Satz."
Anne Lamott
„Wir können nicht gleichzeitig eine Grenze setzen und uns um die Gefühle einer anderen Person kümmern."
Melodie Beattie
„Um Grenzen zu setzen, muss man den Mut haben, sich selbst zu lieben,
auch wenn wir dabei riskieren, andere zu enttäuschen."
Brené Brown
„Ein Mangel an Grenzen lädt zu einem Mangel an Respekt ein."
Unbekannt