Realitäten
(8 min Lesezeit)
„Schönheit liegt im Auge des Betrachters!”
Platon
Hast du schon einmal einen Traum gehabt, der sich so real angefühlt hat, dass du nach dem Aufwachen immer noch die Stimmen in deinem Kopf hören und dich an Gerüche oder Gefühle erinnern konntest, gerade so als wäre es tatsächlich in deiner realen Welt passiert? Wie war das für dich? Warst du neugierig, fasziniert, irritiert oder ein bisschen verwirrt? Hattest du Angst (wenn es ein Albtraum war)?
Und hast du einen solchen Traum schon einmal in deinen Tag mitgenommen und versucht, diese Gedanken und Gefühle abzuschütteln? Hast du dir vielleicht gesagt, dass es eh „nur ein Traum" und nicht „wirklich" war? Was hast du dabei mit „nicht wirklich" gemeint? Als du mitten im Traum gesteckt hast, war doch alles ziemlich „real“ für dich. Du hast es ja sogar danach noch in deinem Körper gespürt!
Was ist also real und was ist „die Realität”, die stets in aller Munde ist? Gibt es vielleicht mehr als nur eine Realität? Beeinflusst unsere Sicht auf die Welt, wie wir uns und unsere Realität wahrnehmen und ausdrücken? Und wer entscheidet, was real ist und was nicht?
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Ist Geld real? Für mich definitiv. Meine Katze sieht darin jedoch eher ein lustiges Stück Metall, das man so herrlich vom Tisch schubsen kann.
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Ist die Angst meines Hundes vor Feuerwerk real? Auf jeden Fall, auch wenn es in meinen Augen ein wunderschönes Farbenspiel am Nachthimmel ist.
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Ist eine Panikattacke real? Ja, und es ist so wichtig, das zu verstehen. Wer mitten in einer Panikattacke steckt, spürt die Angst im ganzen Körper, auch wenn von außen betrachtet keine „reale” Gefahr besteht.
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Ist die Traurigkeit eines Kindes darüber, dass jemand all seine imaginären Kekse aufgegessen hat, real? Jawohl! Auch wenn sich die Situation „nur in seinem Kopf” abspielt, spürt das Kind die Traurigkeit im Körper und drückt sie entweder durch Weinen oder auch über die Sprache aus.
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Ist mein Bedürfnis nach einer Sonnenbrille real, auch wenn es eigentlich Winter ist und die Sonne doch gar nicht so hell scheint? Na klar! Ich habe blaue Augen und bin hochsensibel, und jedes Mal, wenn ich neben einer meiner Freundinnen bei strahlendem Sonnenschein durch die Berge wandere, wunder ich mich, dass sie keine braucht. Wie macht sie das?
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Und so weiter… Fallen dir noch mehr Beispiele aus deinem eigenen Leben und Alltag ein? Was ist für dich real und echt, für andere aber nicht?
Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass bestimmte Dinge für uns alle zur Realität gehören: Die Sonne, die Erde, die Bäume im Wald, die Menschen in unserem Leben, meine Katzen oder dein Hund, unsere Körper und so weiter. Aber was ist mit abstrakten Dingen wie den oben erwähnten oder anderen wie Liebe und Hass, Sicherheit und Gefahr, Schönheit und Hässlichkeit, einer guten und einer schlechten Beziehung?
Schönheit liegt in den Augen des Betrachters und alles andere liegt in deiner Realität.
Wenn dir jemand von seiner Realität erzählt, so wie sie sich in dem Moment gerade präsentiert und anfühlt, dann hör gut zu und versuch sie zu verstehen. Behalt jegliche Meinung über diese Realität für dich. Letztendlich hast du kein Recht zu entscheiden, ob die Realität oder Erfahrung einer Person wahr oder richtig ist oder nicht. Du kannst Recht haben oder du kannst freundlich und liebevoll sein. Was ist dir lieber? Diese kleine aber feine Aussage ist Teil der gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg, die mir sehr am Herzen liegt.
Stell dir folgende typische Situation in Beziehungen vor:
A: Warum hast du mir noch nie von X erzählt?
B: Aber ich habe es dir erzählt!
A: Nein, hast du nicht!
B: Doch, das habe ich!
A: Nein!
B: Doch!
…
Glaubst du, dass irgendjemand innerhalb oder außerhalb dieser Situation mit Sicherheit sagen kann, wer Recht hat? In der Realität von A hat das Gespräch über X nie stattgefunden. Und da spielt es keine Rolle, ob das jetzt stimmt oder nicht. Was zählt ist, dass A sich partout nicht daran erinnern kann. Die Realität von B sieht anders aus. B hat A definitiv von X erzählt, aber was, wenn das nur ein Plan oder ein Gespräch in Bs Kopf war? Wer hat Recht? Wir können es nicht wissen, aber wir können freundlich sein und versuchen, die Situation so gut und liebevoll wie möglich zu lösen. Wenn wir darauf bestehen, Recht zu haben, wird mit Sicherheit jemand verletzt.
Und dann haben wir Menschen diese zweifelhafte Angewohnheit, zu erwarten, dass andere intuitiv unsere Realität kennen. Niemand kann in meinen oder deinen Kopf schauen und „sehen“, was wir fühlen, brauchen oder uns wünschen. Es ist deshalb unglaublich wichtig, gut zu kommunizieren. Je weniger wir erwarten, dass andere unsere Bedürfnisse erraten und sie dann erfüllen, desto wahrscheinlicher werden wir sie tatsächlich erfüllt bekommen und können uns dann darüber freuen. Auch hier ist der Kommunikationsstil, den wir hier verwenden, entscheidend. Erklär deine Realität so neutral wie möglich und gib so viele Details oder so viel Kontext, wie es der andere braucht, um zu verstehen.
Beginn immer mit dir selbst:
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Ich brauche das Gefühl von Sicherheit, kannst du mich umarmen?
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Mir ist kalt, hast du eine Decke für mich oder können wir die Heizung aufdrehen?
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Ich bin verwirrt und brauche Zeit, um alleine zu sein und das Chaos in meinem Kopf zu beseitigen.
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Ich glaube, du hast nicht genau verstanden, was ich eigentlich sagen wollte. Ich habe es dir vielleicht nicht gut genug erklärt. Ich werde es nochmal auf andere Weise versuchen.
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Ich bin überwältigt von den ganzen Eindrücken hier. Können wir das Einkaufszentrum verlassen und an einem ruhigeren Ort frische Luft schnappen?
Keine anklagende oder defensive Sprache, nur freundliche Informationen.
Sprache ist ein mächtiges Werkzeug und in der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, wird uns das nicht zur Genüge beigebracht. Als hochsensible Person weiß ich oft, wie Menschen denken. Die Art und Weise, wie sie sich ausdrücken, die Wörter oder Ausdrücke, die sie verwenden, usw., geben mir darüber Auskunft. Meist geht es nicht darum, was wir sagen, sondern wie wir es formulieren.
Schauen wir uns die Münze mal von der anderen Seite an. Wie reagieren wir, wenn wir mit der Realität eines anderen konfrontiert werden, die nicht unserer eigenen entspricht? Stell dir vor, jemand leidet und erzählt dir davon. Sehr typische Reaktionen darauf sind die Folgenden. Die wahre Botschaft habe ich in kursiv dahinter geschrieben:
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Andere haben es schlimmer, sei dankbar für das, was du hast. (Du hast kein Recht zu leiden.)
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Du bist nicht die Einzige in dieser Situation. (Warum machst du so viel Aufhebens darum, wenn andere damit gut klarkommen?)
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Ist doch nicht so schlimm. (Du übertreibst, möglicherweise um Aufmerksamkeit zu bekommen.)
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Das ist doch kein Grund zu weinen. (Weinen ist für echte Probleme.)
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Vergiss es einfach. Du wirst sehen, dass es gar nicht so wichtig war. (Du machst viel Lärm um nichts.)
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Denk einfach positiv. (Wir akzeptieren nichts Negatives.)
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Hör einfach auf, darüber nachzudenken. (Du denkst zu viel und das ist nicht ok.)
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Du kannst doch nicht einfach Nichts tun. (Du bist faul und unproduktiv, was nicht akzeptabel ist.)
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Das ist nicht realistisch. (Du bist ein Träumer und hysterisch)
All dies macht die Erfahrung und die Realität eines jeden, der leidet, ungültig. Man verweigert ihnen das Recht zu fühlen, was sie fühlen und zu denken, was sie denken, und das hat noch niemandem geholfen. In den letzten Jahren ist mir in Gesprächen mit anderen immer wieder aufgefallen, dass es sehr unterschiedliche Sichtweisen zum Thema „positives Denken“ gibt. In meiner Realität bedeutet positives Denken, jedes Gefühl und jeden Gedanken als real zu akzeptieren, ohne ihn mit einem Etikett zu versehen, auf dem gut oder schlecht steht. Nur dann kann man sie wirklich be- und verarbeiten. Ich kann Trauer, Wut oder sogar Hass spüren, aber solange ich diese „negativen“ Emotionen liebevoll beobachte und dann daraus lerne und Dinge in meinem Leben anpasse oder verändere, werde ich ein gesünderer und ausgeglichenerer Mensch, was wiederum durchaus positiv ist.
Negatives Denken besteht für mich darin, in der Gedanken- und Gefühlsspirale stecken zu bleiben und sich nicht aktiv um einen Ausweg zu kümmern. Wenn ich mir selbst das Recht verweigere, zu denken oder zu fühlen, was die Gesellschaft allgemein als „negativ" bezeichnet, kann ich diese Gedanken und Emotionen kaum verarbeiten. Und das kann schwerwiegende Auswirkungen sowohl auf meine geistige und körperliche Gesundheit als auch auf meine Beziehungen zu anderen haben.
Fazit: Es gibt Gedanken und Gefühle. Ob die nun als positiv, negativ oder neutral wahrgenommen werden, kommt auf die Realität jedes Einzelnen an.
Ich möchte dich einladen, über die nächsten Tage folgende Übung durchzuführen:
1) Beobachte deine Begegnungen mit anderen. Bist du in der Lage unterschiedliche Realitäten als das zu erkennen, was sie sind? Wie leicht fällt es dir zu akzeptieren, dass eigentlich niemand Recht und niemand Unrecht hat?
2) Beobachte deine Gedanken, wenn diese Unterschiede auftreten. Fühlst du einen innerlichen Widerstand gegen die Annahme, dass deine Realität möglicherweise nicht universell ist? Lässt es dich an deiner eigenen Realität zweifeln oder bist du da eher selbstbewusst? Kannst du akzeptieren, dass es unterschiedliche Realitäten gibt, ohne sie zu beurteilen?
3) Achte auf deine Sprache (anderen gegenüber UND im inneren Monolog) und nimm kleine Änderungen vor. Füg ein "für mich" oder "in meiner Realität" zu Aussagen über deine Wahrnehmung der Welt hinzu. Du wirst sehen, wie schnell Diskussionen über bestimmte Dinge oder Ansichten ins Leere laufen werden, da diese kleinen Zusätze Subjektivität ausdrücken, die, wie wir wissen, kaum anfechtbar ist. Mach nun dasselbe für den Anderen. Sag: „Ich sehe, dass für dich X, Y oder Z gilt. Ich sehe das nicht so, aber erzähl mir mehr darüber. Ich möchte es gerne verstehen. "
4) Versuch, so wenig wie möglich als allgemeingültige Fakten darzustellen, insbesondere wenn es um Präferenzen geht. „Sonnenbrillen werden auf dem Kopf getragen, wenn man sie nicht braucht." Ich kenne jemanden, der sie sich auf den Hinterkopf setzt, als hätte er dort Augen. Es sieht sehr lustig aus und wer entscheidet letztendlich, was richtig oder falsch ist? Ich frage auch immer wieder gerne: „Wer ist eigentlich dieser MAN, der immer alles tut oder tun muss?“ Es ist in Ordnung, zu sagen, dass die Erde rund ist. Ich denke, da sind sich die meisten einig, obwohl selbst diese Realität von einigen wenigen in Frage gestellt wird. Wer bin ich, um sie dafür zu verurteilen?
Ändern sich Realitäten? Auf jeden Fall!
Realität ist flexibel und ständig von Veränderungen geprägt; manchmal so langsam und fließend, dass es kaum spürbar ist. Deine Realität als Teenager unterscheidet sich sehr von deiner Realität als Erwachsener. Und wenn du 30 bist siehst du die Welt anders als in anderen Lebensabschnitten. Das Leben ist eine konstante Lernerfahrung. Jede Erfahrung und herausfordernde Situation, die du er- und durchlebst, verändert deine Realität. Erinnerst du dich noch daran, als du so jung warst, dass dir 30-Jährige ziemlich alt vorkamen, und du dich, als du dann selbst 30 wurdest, plötzlich für viele der Herausforderungen dieser Lebensphase viel zu jung gefühlt hast? Auch die Wissenschaft verändert unsere Realität immer wieder, indem sie neue Naturgesetze entdeckt oder beweist, dass das, was als absolute wissenschaftliche Wahrheit angesehen wurde, gar nicht so richtig stimmt. Ich erinnere mich, dass ich als Kind einen Film gesehen habe, in dem zwei Menschen sich über ein spezielles Science-Fiction-Telefon unterhielten und sich gleichzeitig auf Bildschirmen sehen konnten. Und rate mal, was ich dabei dachte. So unrealistisch kam mir das damals vor, dass ich mich heute noch daran erinnere. Und jetzt gehört es schon zu unserer Normalität und keiner wundert sich mehr darüber. Spannend, oder?
Das alles bedeutet für uns, dass wir auch unsere Realität aktiv verändern können. Es ist ein Prozess, der viel Geduld und Beobachtung erfordert. Wir müssen Teile unserer aktuellen Realität erkennen lernen, die aus der Kindheit und vor allem von anderen Menschen stammen. Wie oft nehmen wir etwas als gegeben hin, nur weil jemand anderes es gesagt hat?
Wenn du als Kind z.B. in einer Realität aufwächst, in der Sensibilität als Schwäche oder Störung angesehen wird, ist es als Erwachsener eine ziemliche Herausforderung, diese Sichtweise zu ändern. Es ist aber mit viel Geduld und Liebe durchaus möglich. An diesem Beispiel kann man sehr schön sehen, wie bereichernd und wichtig es ist, unsere eigenen Wahrnehmungen und Realitäten in Frage zu stellen. Frag dich, wo der Ursprung der verschiedenen Bereiche deiner Realität liegt. Dinge zu hinterfragen bedeutet nicht, zu verurteilen oder zu leugnen, aber es hilft, herauszufinden, wo kleine (oder große) Anpassungen möglich, erwünscht oder auch nötig sind.
Wichtig ist dabei, dich selbst und deine Realität nicht allzu ernst zu nehmen ;)
Weitere Fragen zum Nachdenken und Beobachten:
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Was ist für dich eine Realität oder Wahrheit, die aber nicht für alle Menschen gilt?
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Wie selbstbewusst fühlst du dich in deiner Realität?
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Wie einfach ist es für dich, die Realität anderer Menschen zu akzeptieren, insbesondere wenn sie nicht mit deiner eigenen übereinstimmt? Wie reagierst du? Hast du gerne Recht?
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Welche Sprache verwendest du, wenn jemand anderes seine individuelle Realität ausdrückt? Gewährst du sie ihm oder ihr? Zweifelst du sie an? Oder unterstützt du sie?
Denk darüber nach…
Ich wünsche dir,…
… dass du dir eine schöne, friedliche und liebevolle Realität schaffen kannst.
… dass du freundlich und flexibel genug bist, um die Realitäten anderer zu sehen, zu schätzen und zu akzeptieren.
… dass deine Realität mit deinen Wünschen und Träumen Hand in Hand geht und sich entsprechend immer wieder anpasst.