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Von Licht und Dunkelheit und dem, was dazwischen liegt

(7 min Lesezeit)

 

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Stell dir eine Welt vor, in der dein Gemütszustand dadurch erkennbar ist, ob du von Licht oder Dunkelheit umgeben bist. Wie du die Welt erlebst, hängt davon ab, wieviel und was du um dich herum sehen kannst und was nicht. Je mehr Licht, desto heller und farbenfroher siehst und erlebst du die Welt. Alles erscheint leicht (oder zumindest leichter) und erlebenswerter. Wenn aber das Licht schwindet, erscheint alles plötzlich grau und trist. Oder sogar pechschwarz, je nachdem wie tief du dich in der Dunkelheit befindest.

 

Es gibt jedoch auch etwas zwischen diesen zwei sehr gegensätzlichen Szenarien. Der Übergang zwischen den beiden ist genauso wichtig wie die beiden selbst. Das wurde mir erst so richtig bewusst, als ich das letzte Mal aus einem dieser dunklen Momente herauskam. Seit ich gelernt habe, meine Gedanken und Gefühle von außen zu betrachten, bin ich immer wieder darüber erstaunt, was ich entdecke. Ich möchte diese Erkenntnisse mit dir teilen für den Fall, dass du selbst schon solche Momente durchlebt hast oder jemanden kennst, der damit zu kämpfen hat. Sich selbst zu beobachten ist der erste große Schritt in die richtige Richtung. Schauen wir uns also mal an, was so zwischen Licht und Dunkelheit zu finden ist.

 

Das Leben ist nicht immer strahlender Sonnenschein. Das wissen wir alle, jedoch sind die Lichtverhältnisse des Lebens genauso individuell wie wir Menschen. Im Allgemeinen kann man aber sagen, dass wir alle unterschiedliche Phasen durchleben, die wir, um eine anschauliche Metapher zu kreieren, hier mit Tag und Nacht gleichsetzen werden. Am Tag scheint die Sonne auf dich und deine Welt, gibt dir Energie und sorgt für gute Laune. Du kannst klar erkennen, was dich umgibt und erfreust dich an der Schönheit der Dinge. Und dann kommt die Dämmerung und das Licht schwindet und die Dunkelheit hält Einzug.

 

Nach einer Weile musst du ein Licht anmachen, um weiterhin sehen zu können, wo du bist und was du tust. Leseratten kennen diese Situation bestimmt. Da sitzt du ins Buch vertieft und merkst nicht, wie die Dämmerung über dich hereinbricht, bis du kaum noch einen Buchstaben auf dem Papier erkennen kannst. Dann holst du eine Kerze oder Leselampe heraus und liest weiter. Am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder aufgeht, verstaust du die Lampe für das nächste Mal, wenn du sie brauchst. Du hast gelernt, mit diesen Auf und Abs, diesem Hell und Dunkel zu leben. Sie sind Teil deines Lebens und du bist daran gewöhnt.

 

Wenn du allerdings an Depressionen oder schweren PMS-Stimmungsschwankungen leidest, oder ein traumatisches Erlebnis hattest, dann kann das ganz anders aussehen. Abrupter, weniger leicht handhabbar, schneller und verstörender. Manchmal ist es regelrecht angsteinflößend.

 

Stell dir vor, du würdest aus wolkenlosem Sonnenschein heraus in eine dir unbekannte Wohnung treten, in der alle Fenster und Türen verdunkelt sind. Wenn sich die Tür hinter dir schließt, bist du plötzlich von absoluter Dunkelheit umgeben und du hast keine Ahnung, wo der Ausgang ist. Der Kontrast ist so stark, dass deine Augen eine Weile brauchen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das ist ein ziemlicher Schock für dich und du stehst erstmal nur da und blinzelst, aber sehen kannst du nichts. Du hast keine visuellen Anhaltspunkte: keine Schatten, keine Konturen.

 

Das Einzige, was dir übrig bleibt, ist dich mit den Händen voranzutasten. Alles ist ungenau und neu und beim Herumlaufen schlägst du dir immer wieder die Knie, Ellbogen oder Schienbeine an irgendetwas an, was dir im Weg steht. Wenn du Glück hast, gibt es in den Wänden oder Fenstern kleine Risse, durch die etwas Licht hereinkommt. So kannst du immerhin ein paar Umrisse erkennen, aber die farbenfrohe Helligkeit von draußen ist weg. Du bist nicht freiwillig an diesen Ort gegangen und du hast eine Ahnung, wie viel Zeit vergehen wird, bis du den Sonnenschein wieder sehen und fühlen kannst.

 

Am Anfang kannst du dich noch an die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut erinnern und vor deinem inneren Auge ziehen Bilder immenser Schönheit vorbei. Du versuchst, an diesen Erinnerungen festzuhalten, obwohl sie dir nicht nur Freude bereiten. Es schmerzt dich, dass du gerade nicht dort draußen bist und das alles erleben kannst. Denn wo du gerade bist, ist alles schwarz. Hätte man dich nur vorgewarnt, dann hättest du eine Taschenlampe mitgenommen, deren Licht dir den Weg zur Tür erleichtern könnte. Aber dieses Glück war dir nicht vergönnt.

 

Nach einer Weile fühlst du dich ein bisschen weniger orientierungslos und du bist motiviert, deine neue Umgebung zu erkunden. Auch wenn du nicht zum ersten Mal von solch einer Dunkelheit eingeschlossen wurdest, ist es doch eine große Herausforderung, denn nicht jeder dunkle Ort ist gleich und vielleicht hast du diesen noch nie erlebt. Tag und Nacht fühlen sich gleich an und dir fehlt die Energie, die dir das Sonnenlicht draußen schenkt. Es ist einfach nur anstrengend, die Energie von Innen aufzubringen. Aber du hast keine Wahl und so machst du kleine Schritte. Einen nach dem anderen.

 

In der Dunkelheit braucht es viel Willenskraft, dich nicht einfach gehen zu lassen und ein gemütliches Plätzchen zu suchen, an dem du die Augen schließen und warten kannst, bis alles vorbei ist. Es gibt keinerlei Ablenkung von außen und dein Inneres ist alles, was du siehst und hörst. Manchmal wünschst du dir einfach nur, dass es aufhört. Soll dich doch die ewige Dunkelheit verschlucken. Oder du wünschst dir eine einfache Lösung, z.B. einen Lichtschalter, den du umlegen kannst und alles ist wieder hell und farbenfroh. Aber so einfach ist das leider nicht. Und je länger du in der Dunkelheit bist, desto schwieriger wird es, dir ins Gedächtnis zu rufen, wie es ist, nicht im Dunklen zu stehen. Du erinnerst dich schwach an das Gefühl von Leichtigkeit und Freude, aber es erscheint dir unrealistisch und unerreichbar.

 

Normalerweise gibt es an solch dunklen Orten eine Kommunkationsmöglichkeit nach draußen, eine Art Bildschirm, über den du mit deinen Freunden und Bekannten draußen Kontakt aufnehmen kannst. Du hast aber Zweifel, ob es eine gute Idee ist, das zu tun. Werden sie dir überhaupt helfen können? Werden sie wissen, wo du bist? Werden sie versuchen, deine Situation zu verstehen und deiner Beschreibung des dunklen Ortes ohne Unterbrechung aufmerksam lauschen? Oder werden sie sich über dich wundern, weil sie keine Dunkelheit sehen können, und werden sie dir Ratschläge geben, die für dich unmöglich umzusetzen sind? Von außen ist die Tür zum dunklen Ort so leicht zu finden, aber von innen kannst du sie einfach nicht sehen und somit auch nicht „einfach öffnen”. Wirst du damit umgehen können, sie durch den Bildschirm in der Sonne herumspazieren zu sehen oder vermeidest du das lieber, da es dich neidisch macht und nur noch mehr schmerzt? Und wie fühlst du dich dabei, um Hilfe zu bitten? Ist das ok für dich oder schämst du dich dafür, dass du mit der Situation nicht klarkommst und denkst, dass du doch stärker sein müsstest? Es kann doch nicht so schwer sein, eine Tür zu finden...

 

Wahrscheinlich wirst du dich dann an jene wenden, die selbst schon mal an dunklen Orten waren. Auch wenn es nicht der gleiche dunkle Ort war, wissen sie dennoch Bescheid und können mit dir fühlen. Sie wissen, wie sehr einen dort drinnen das Licht blendet, das durch den Bildschirm kommt, und so dunklen sie ihre Seite soweit ab, dass es für dich angenehm ist, du aber trotzdem ein wenig vom Licht und der Energie abbekommst. Es tut sehr gut, sich mit diesen „Freunden der Dunkelheit” zu unterhalten.

 

Es kann dich sogar soweit beruhigen, dass du es schaffst, dir deine Umgebung genauer anzusehen. Und dann entdeckst du mit Hilfe des Lichtes deines Freundes eine kleine Kiste auf dem Tisch am anderen Ende des Zimmers. Und in dieser Kiste ist eine kleine Kerze mit ein paar Streichhölzern oder auch eine kleine Taschenlampe. Das überlasse ich deiner Fantasie. Mit diesem kleinen Licht kannst du nun den dunklen Ort ablaufen und besser erkunden. Und plötzlich findest du noch mehr Kerzen oder Lampen und machst sie alle an. Nach einer Weile ist alles so hell, dass du die Tür erkennen kannst. Du läufst hin, stößt sie weit auf und trittst nach draußen.

 

Du bist überwältigt von dem Licht und der Wärme. Das war es doch, wonach du dich so sehr gesehnt hattest. Aber jetzt hast du auch ein kleines bisschen Angst. Natürlich ist es schön, die Wärme der Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren, aber du kannst unmöglich die Augen öffnen. Soviel Licht bist du nicht mehr gewöhnt und es blendet dich so sehr, dass du wieder kaum etwas erkennen kannst. Das ist dir sehr peinlich. War das nicht der Moment, den du dir herbeigewünscht hattest? Und jetzt fühlst du dich so unwohl, dass du dich fast wieder zurück in die Geborgenheit der Dunkelheit wünschst, wo dir die Augen nicht so wehgetan haben?

 

So wie es eine Weile braucht, bist sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, so dauert es auch, bis du wieder entspannt im Sonnenlicht stehen kannst. Je stärker der Kontrast, desto schwieriger ist es. Vielleicht setzt du dir erstmal die Sonnenbrille oder einen Hut auf oder bleibst im Schatten eines Baumes, bis du dich bereit fühlst, in der prallen Sonne zu gehen. Und du hoffst, dass du nicht allzu vielen Menschen begegnest, die dir Dinge sagen wie: „Da bist du ja, gut siehst du aus. War ja bestimmt gar nicht so schlimm, du hast es ja geschafft. Siehst du, ich hab dir ja gesagt, dass alles auch wieder vorbeigeht.” Es tut dir weh, so etwas zu hören, denn du erinnerst dich. Du erinnerst dich daran, wie schlimm es war und wie sehr du dich angestrengt hast, Farben und Licht zu sehen, aber wie du immer wieder gescheitert bist. Und dann hast du dir selbst die Schuld für die Fehlschläge gegeben. Du schämst dich, weil diese anderen keine wirklich dunklen Orte kennen... oder zumindest erfolgreich so tun als ob.

 

Dann stellst du fest, dass du so sehr damit beschäftigt warst, den Weg aus der Dunkelheit zu finden, dass du es völlig versäumt hast, den Kontakt zu anderen zu halten, die auch durch dunkle Orte mussten. Du fühlst dich egoistisch und schämst dich noch mehr.

 

Draußen im Tageslicht kommt es dir so komisch vor, dass du die ganze Schönheit der Welt nicht sehen konntest. Wie ist das möglich gewesen? Aber du weißt, dass es jederzeit wieder passieren kann. Wenn du dich doch nur irgendwie darauf vorbereiten könntest, z.B. etwas bei dir tragen, das dir jederzeit Licht gibt oder jemanden an deiner Seite haben, der dich festhält, wenn du wieder in der Dunkelheit zu verschwinden drohst.

 

Die gute Nachricht ist, dass du lernen wirst, dich zu beobachten. Und auf deinem Lebensweg wirst du kleine Helfer sammeln, die du immer bei dir tragen kannst und die mit dir in die Dunkelheit gezogen werden. Kleine Erinnerungen an schöne Momente und Gefühle, Erinnerungen an die Menschen, die du jederzeit anrufen kannst und die dir gut tun, und Erinnerungen daran, dass es ok ist. Es ist ok zu sein, wo du bist. Und ich meine damit nicht, dass es schön oder angenehm ist, sondern dass es akzeptabel, verständlich und erlaubt ist. Du musst nicht so tun als würdest du im strahlenden Sonnenschein wandeln, wenn dich Dunkelheit umgibt. In jedem Moment, den du durchlebst, gibst du dein Bestes mit den Ressourcen, die dir zur Verfügung stehen. Niemand darf mehr von dir verlangen, nicht einmal du selbst.

 

Es ist ok. Du bist ok. Sei gut zu dir.

Du bist nicht die Dunkelheit.

 

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