Der Kokon des Lebens
(6 min Lesezeit)
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„Alleine hat sich für mich immer wie ein wirklicher Ort angefühlt, als wäre es kein Zustand des Seins sondern ein Raum, in den ich mich zurückziehen und dort sein konnte, wer ich war.“
Cheryl Strayed
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Hattest du jemals dieses einzigartige Gefühl, das einen erfüllt, wenn man nach einer sehr intensiven Erfahrung (gut oder schlecht) einen ruhigen Ort betritt und lächelt, weil man so zufrieden damit ist, alleine zu sein? Ich nenne das den Kokon, wie beim Schmetterling. Ich wollte schon eine ganze Weile etwas zu diesem Thema schreiben und als ich dann vor ein paar Tagen über dieses Zitat gestolpert bin, ist mir klargeworden, dass ich einen besseren Einstieg nicht hätte finden können. Es drückt so wunderbar aus, was ich meine, wenn ich über meinen Kokon spreche, oder wenn ich Freunden erzähle, dass ich mich jetzt mal eine Weile verpuppe (Engl. cocooning). Ich nehme an, dass ich mich in meinem Leben schon oft in meinen Kokon zurückgezogen habe, aber erst jetzt ist es mir wirklich bewusst geworden. Und ich muss zugeben, dass ich es absolut super finde und es deshalb mit euch teilen möchte. Möge es euch inspirieren und euch ein weiteres Werkzeug auf eurem Weg durch das Leben geben.
Ein Kokon ist ein Ort der Verwandlung. Raupen schließen sich fest in ihre Kokons ein, um nach einer Weile als Schmetterling wieder herauszukommen. Im Leben einer Raupe passiert das natürlich nur einmal, aber im übertragenen Sinne sind wir Menschen mit vielen solchen Möglichkeiten zur Verwandlung gesegnet. Stell dir vor, du dass du schon am Anfang deines Lebens ein Schmetterling bist. Deine Flügel sind aber nicht bunt, sondern weiß wie frischer Schnee. Je älter du wirst, desto mehr Farben sammelst du auf deinen Flügeln und je treuer du dir selbst bist, desto leuchtender die Farben. Ein neuer Farbfleck entsteht immer dann, wenn du etwas Wichtiges oder Wertvolles über dich selbst gelernt hast. Und diese neuen Erkenntnisse kannst du gewinnen, indem du immer wieder zur Raupe wirst, dich in deinem Kokon für eine Zeit des intensiven Nachdenkens und Hineinhorchens einschließt und dann die alte Haut abwirfst und wieder zum Schmetterling wirst. Mit neuen Farben auf den Flügeln.
Für mich gibt es zwei Hauptkokons, die beide gleich wertvoll sind. Der „Ich-habe-etwas-so-Grandioses-erlebt,-dass-ich-mit-aller-Kraft-und-dem-ganzen-Herzen-daran-festhalten-und-es-in-der-Erinnerung-wieder-und-wieder-durchleben-möchte“-Kokon und der „Ich-bin-vom-Leben-gerade-so-dermaßen-überfordert,-dass-ich-am-liebsten-weglaufen,-die-Tür-hinter-mir-zuschlagen-und-für-eine-Weile-nicht-mehr-rauskommen-möchte. Haltet-einfach-mal-alle-den -Mund-und-lasst-mich-allein.“-Kokon. Schauen wir uns beide etwas genauer an.
Das erste Mal, dass ich mich wirklich bewusst in einen Kokon verschlossen habe, war nachdem ich vier wundervolle Tage in einem Yogahaus in der Natur verbracht hatte. Ich nahm an einem fortgeschrittenen Thai-Massage-Kurs teil und die Gruppe war sehr besonders. Vom ersten Moment an waren tiefe Verbindungen zu anderen Teilnehmern entstanden und ich fühlte mich unglaublich sicher und frei. Wir haben viel gelernt, uns umarmt, gelacht und Weisheiten und Erfahrungen geteilt. Zu der Zeit erholte ich mich gerade von einem Burnout und von so viel Liebe und Akzeptanz umgeben zu sein, war Honig auf meiner Seele. Nach solch schönen Tagen fällt mir der Abschied immer besonders schwer. Wie kann man einfach zu dem zurückkehren, was wir Alltag nennen, wenn Körper und Herz so voller Erinnerungen sind, die so lebendig sind, dass sie sogar noch körperliche Reaktionen hervorrufen?
Ich kann das nicht. Ich erinnere mich, wie ich zurück in meine Wohnung kam und es ein paar Tage dauerte, bis ich wieder mit meinen Freunden reden wollte; Menschen, mit denen ich davor täglich Kontakt hatte und die ein wichtiger Teil meines Lebens sind. Aber in dem Moment wollte ich mit meiner Erinnerung alleine sein. Ich wollte meine Augen schließen und all die schönen Gefühle nochmals fühlen und über die vielen interessanten und inspirierenden Gespräche nachdenken und das so lange, bis alles nach und nach von alleine ins Langzeitgedächtnis verblasst. In solchen Momenten habe ich immer das Gefühl, dass es ein Risiko ist, meine Gedanken und Gefühle anderen mitzuteilen. Ein Risiko, das ich nicht bereit bin, einzugehen. Es besteht die Möglichkeit, dass mein Gegenüber nicht erkennt, wie wichtig das für mich ist, oder es einfach nicht nachvollziehen kann. Es würde die Magie zerstören.
Man kann es sich wie eine sehr zarte Blume vorstellen, die nur von ganz sanften Fingern angefasst werden darf. Und deshalb habe ich mich in meinen Kokon zurückgezogen. Seit ich mir dessen bewusst war und es den Menschen um mich herum erklären konnte, ist mein Leben sehr viel einfacher geworden. Ich kann nun einfach um Zeit bitten und in meinem Kokon bleiben, bis ich alles verarbeitet habe, was verarbeitet werden möchte. Ich bin sehr dankbar für und auch erleichtert über all das Verständnis, das mir entgegengebracht wurde und wird. Eines Tages erzählte mir eine Freundin, dass sie das gleiche Gefühl hatte, nachdem sie von einem intensiven und wunderschönen Backpacking-Trip in Nepal zurückgekommen war. Sie fühlte sich schlecht, weil sie keine Lust hatte, Freunde zu treffen und von ihren Erlebnissen zu sprechen. Ich war auch eine von denen, die nur so darauf wartete, die Erzählungen zu hören, aber ich fühlte mich ihr in dem Moment auch zutiefst verbunden. Ich erzählte ihr von meinem Kokon und merkte richtig, wie sie entspannte. Sie nahm sich die Zeit, die sie brauchte und danach hatten wir unseren Moment des Erinnerns und Teilens.
Es ist immer schön, wenn sich unsere Lieben dafür interessieren, was wir tun und erleben, aber manchmal haben wir dann das Gefühl, ihnen etwas schuldig zu sein. Sie zeigen Interesse, also müssen wir ihnen etwas bieten, um nicht unhöflich zu sein. Ich lade dich ein, das anders zu sehen, weil es wahrscheinlich nur das ist, von dem du denkst, dass andere es denken, und das führt letztendlich zu einem inneren Konflikt: Die Neugier der anderen gegen deine Bedürfnisse. Es ist deine ganz persönliche Entscheidung, dir diese Zeit zu nehmen und in deinem Kokon all das zu verarbeiten, was da ist. Hör darauf, beobachte es, fühl es, fühl es noch ein wenig mehr, schätz es und teil es dann mit anderen, wenn du dafür bereit bist.
Es gab aber auch andere, nicht so positive Momente, die mich in meinen Kokon getrieben haben. Meine Gründe sind vor allem für hochsensible und introvertierte Menschen sehr typisch: Ich habe zu viel Zeit mit anderen Menschen verbracht und fühle mich ausgelaugt. Ich habe all meine Aufmerksamkeit einem anderen Menschen gewidmet, der mich gebraucht hat, und dabei habe ich mein eigenes Bedürfnis nach einer Auszeit nicht respektiert. Jemand hat meine Aufmerksamkeit für sich beansprucht und ich konnte dem nicht entkommen oder wusste nicht, wie. Ich war sehr viel Lärm, Getummel, Meinungen, Stress, hektischen Menschen, Reisen usw. ausgesetzt. Oder ich habe eine depressive Phase und alles erscheint mir sehr düster und ich schäme mich dafür, mich schlecht zu fühlen. In all diesen Momenten fühle ich mich oft sehr einsam, und das meistens, weil ich aufgehört hatte, mir selbst ein guter Freund zu sein.
Und dann passiert etwas wahrlich Wundervolles. Man kann es sich so vorstellen wie eine Straße voller Autos, Marktschreiern, spielenden, lachenden und schreienden Kindern und Menschen, die überall herumwuseln und dich immer wieder anrempeln. Und dann erinnerst du dich an diese Mauer mit der kleinen, versteckten Tür. Du stößt sie auf und gehst durch. Und dann stehst du in einem schönen Garten mit Bäumen und Blumen und... absoluter Stille. Man hört nur die heilenden Geräusche der Natur. Und plötzlich kannst du dich einfach nur auf dich selbst konzentrieren. Es ist wie ein emotionaler und mentaler Spa. Und die Mauer zeigt dir ganz deutlich, was Deins ist und was du vielleicht zu Deinem gemacht hast, aber gar nicht deine Verantwortung ist. Sehr sensible Menschen haben es oft schwer, die Grenze dazwischen zu ziehen.
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Das Interessanteste an meinem Kokon ist für mich die Tatsache, dass ich mich darin nie einsam fühle. Ich bin dort mit mir selbst und mit ein paar VIPs: meine Katzen und ein paar Menschen, die ich in den Kokon hereinlasse. Und dann schlafe oder lese ich, sitze wie eine Eidechse in der Sonne oder lasse mir ein Bad ein, gehe spazieren oder bastle, mache Musik an und tanze dazu oder auch nicht, und so weiter. Ich folge einfach meinem Bauch und Herz und lasse den Kopf ruhen. Ich liebe meinen Kokon. Es ist ein Ort des inneren Friedens, an dem ich mir erlaube, einfach zu existieren und meine eigenen Erwartungen und die, von denen ich denke, dass andere sie an mich haben, vor der Tür zu lassen. In meinem Kokon regiert die Einfachheit und darin liegt der Schatz begraben. Ich gebe mir selbst die Möglichkeit herauszufinden, was ich vergessen habe und inwiefern ich mich selbst und meine Grenzen nicht respektiert habe. Und jedes Mal, wenn ich meinen Kokon verlasse, bin ich ein bisschen ein neuer Mensch geworden und auf meinem Regal der Lebensweisheiten steht wieder eine neue glänzende Trophäe, auf die ich stolz bin und an die ich mich erinnern werde.
Hast du einen Kokon? Wie sieht er aus und was sind für dich Momente, in denen du dich darin zurückziehst? Und gibst du dir selbst die Erlaubnis, darin zu verweilen, solange du es brauchst, um den Kontakt zu dir selbst wieder herzustellen? Ich bin neugierig auf deine Geschichte. Teil sie mit mir, wenn du magst. Ich werde mich sehr darüber freuen.
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